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W wie Wohnen 

Recherche u. Texte zu alternativen Wohn- und Lebensformen

seit 2020

 

"Es ist eine heikle Aufgabe, eine Geschichte zu schreiben. Daher muss man Abstand halten: zum Archiv-Reflex, der einem nur Informationen entnehmen lässt, wie auch zum Archiv-Beweis, anhand dessen man, im Gestus des endgültigen Abschließens mit dem Material, etwas demonstrieren kann." [1]

Ich öffne die Mappe aus hellgrauem Karton. Der Karton ist glatt und kühl. Wie rau meine Hände sind nach zwei Tagen Schnee. Mit der linken Hand ziehe ich den Papierstapel behutsam heraus. Dann lege ich die Archivalien Blatt für Blatt von der einen auf die andere Seite. Die Papiere sind gelbweiß, braun und beige. Schreibmaschinenbedruckt, mit Füllfederhalter beschrieben, gefaltet, randrissig und gelocht. Wenn alle Blätter von links nach rechts gewandert sind, fasse ich vorsichtig mit den Händen unter den Papierstapel, wende ihn, halte ihn und klappe mit der rechten Hand die Mappe auf und schiebe den Stapel mit der linken Hand zurück ins Innere.

Ich bin mir sicher: Über Schrift vermittelt sich Geschichte.

In einer festen Klarsichthülle steckt das Foto. [2] Laut Angabe im Online-Katalog misst es 15 x 23 cm und wurde vor 1945 aufgenommen. Auf der Rückseite des Fotos, auf weiß-gelben Grund, ist in der unteren linken Ecke mit einem Stempel in blaulila- schwarz Best 95 gedruckt. Mit einem dünnen blauen Stift wurden eine 1 und Nr. 2187 ergänzt. Quer über die weißgelbe Rückseite der Fotografie, die mit leichten Abreibungen und Flecken bedeckt ist, ist mit Bleistift ein Strich gezogen, der in der Mitte unterbrochen ist. Zwischen den zwei Strichen sind die Maße notiert, 12 x 23. Im oberen Bereich ist in selber Schrift der Name des abgebildeten Bauwerks vermerkt: Damenheim III/IV, Struckmannstr. 15/17. Die blaue Kugelschreiberschrift und die graue Bleistiftschrift unterscheiden sich. Zwei Personen und zwei Zeitlichkeiten haben sich auf der Rückseite eingeschrieben.

Ich wende die Fotografie.

Neben der Eingangstür steht in Stein gemeißelt: Damenheim IV. Ich fahre mit dem Zeigefinger den ersten Buchstaben entlang, das D mit dem gerade Strich und Ausbuchtungen unten und oben und dem Halbreis. Der Stein ist geriffelt und kalt.

Ich überquere die Struckmannstraße. Von der gegenüber-liegenden Seite blicke ich auf das Haus. Es leuchtet in einem Ton, den eine Freundin von mir mal als Fuchsia bezeichnet hat. Auf der Fassade ist eine Bauplastik angebracht. Von der Mauer erhebt sich die Büste einer Person. Ihr Kopf ist im Halbprofil dargestellt. Das Haar ist kurz oder zu einem Dutt im Nacken zusammengebunden und der Blick richtet sich zum Boden. Kannte man das Gesicht in den endenden 1920er Jahren in Hildesheim oder sehen die Passant*innen damals wie heute eine*n namenlose*n Schutzheilige*n der Damenheime? In den Akten des Stadtbauamtes finde ich nur den Namen des Bildhauers Schlotter. [3] Wer die Person ist oder wen sie darstellt, ist nirgends vermerkt.

"Historians read for what is not there:
the silences and the absences of the documents always speak to us." [4]

[1] Arlette Frage: Der Geschmack des Archivs [frz. Le goût de l‘archive, 1989]. Göttingen 2011. S. 94.

[2] StadtA HI, Best. 951, Nr. 2187.

[3] StadtA HI, Best. 102, Nr. 11551.

[4] Carolyn Steedman: „Something She Called a Fever: Michelet, Derrida, and Dust”. In: American Historical Review, Bd. 106, Nr. 4, Oktober 2001. S. 1117.

Fotos: Leona Koldehoff / Stadtarchiv Hildesheim

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